Literatur

Loyalitäten (Delphine de Vigan)

Théo ist zwölf Jahre alt, seine Eltern leben seit Jahren getrennt und reichen den Jungen wöchentlich zwischen sich hin und her. Während der Vater im Chaos versinkt, ein wirkliches Kümmern ausbleibt, herrscht in der Wohnung der Mutter eine gegensätzliche Atmosphäre aus Disziplin und Strenge. Théo fühlt sich überfordert, doch findet schließlich Mittel und Wege, um sich kurzfristig auszuklinken, sein eigenes Empfinden in Watte zu packen. Gemeinsam mit seinem Freund Mathis schleicht er sich in das Schulkabuff, um dort Alkohol zu trinken, erst nur ein wenig, dann systematisch mehr und mehr. Nach einer Weile beginnt seine Lehrerin Hélene Veränderungen an ihrem Schüler wahrzunehmen, sie sorgt sich um Théo, beginnt Untersuchungen anzustellen, doch stößt mit ihren Vermutungen bei den Kollegen auf taube Ohren. Nur Cécile, Mathis‘ Mutter, ahnt ebenfalls, dass hinter Théos Verhalten mehr steckt als die Vorpubertät.

Spätestens seit Nach einer wahren Geschichte bin ich Delphine de Vigan Fan, und auch Loyalitäten, das dritte Buch, das ich von der Autorin gelesen habe, hat mich nicht enttäuscht. Es gibt hier verschiedene, im Vordergrund stehende, Figuren: Hélene und Cécile schildern die Handlung jeweils aus ihrer Perspektive, Théo und Mathis werden wiederum von einem auktorialen Erzähler ins Visier genommen. Die Kapitel sind kurz, genau wie das Buch selbst. Und trotzdem schafft Delphine de Vigan es auf wenigen Seiten komplexe, authentische Figuren zu entwerfen, deren Persönlichkeiten und Lebensumstände mich trotz (oder gerade wegen) ihrer Nahbarkeit faszinierten. De Vigan schreibt feinsinnig, treffend, lässt aber auch immer eine gewisse Kühle mitschwingen, ein Stil, den ich sehr lieb gewonnen habe. Verschiedene Missstände, gesellschaftliche Fragen und persönliche Dilemmata werden hier angesprochen, trotz der insgesamt eher „leisen“ Geschichte, kommt Spannung auf, die mich dazu brachte, den Roman in einem Rutsch auszulesen. Das Ende hätte für mich etwas weniger Fragezeichen haben dürfen, auf der anderen Seite mochte ich, dass eben nicht alles auserzählt wird. Ein wunderbares, kurzweiliges Buch, dessen 170 Seiten einiges zu bieten haben.