Wer wir sind (Lena Gorelik)
Lena ist elf Jahre alt als sie im Jahr 1992 zusammen mit ihren Eltern, ihrem großen Bruder und der Großmutter ihre Heimatstadt St. Petersburg verlässt, um nach Deutschland zu gehen. Beim Abschied lässt sie nicht nur ihre Hündin Asta, sondern auch alles zurück, was sie mit ihrem Großvater verbunden hat. Im deutschen Ludwigsburg lebt die Familie erst auf engstem Raum in einem Asylheim, später kann sie sich eine kleine Wohnung mieten. Lena erlebt, wie ihre Mutter, eine studierte Ingenieurin, den ersten neuen Job als Reinigungskraft feiert, und wie ihr Vater sich im Restaurant schämt, wenn die Kellner seinen Akzent nicht verstehen. Mit einem Mal ist Lena die Fremde, das Flüchtlingskind. Doch schneller als ihre Eltern arrangiert sich das Mädchen mit der Situation, spricht bald fehlerfrei Deutsch und gewinnt mit der Sprache neue Hoffnung und Macht. Doch in ihren Vorstellungen vom Leben, im Verhältnis zur Heimat, entfernt sich Lena immer weiter von ihren Eltern.
Schon ganz lange stand Wer wir sind, der autobiografische Roman von Lena Gorelik, weit oben auf meiner Leseliste. Das Buch hat meine hohen Erwartungen zum Glück erfüllen können. Besonders die virtuose, so treffende Sprache hat mir sehr gut gefallen. Über Goreliks Worte, die konkreten Momente und Bilder, die sie schafft, wurden ihre Erfahrungen für mich absolut fühlbar. Die Erzählung springt immer wieder zwischen Lenas Kindheit in Russland und der Zeit in Deutschland hin und her, nicht nur ihre eigene Entwicklung wird dabei anschaulich, sondern auch das, was die Migration mit ihren Eltern und ihrer Großmutter macht, wie ungerecht und demütigend das Leben in Deutschland für die Familie nicht selten ist. Der Zwiespalt, den Lena empfindet, diese Mischung aus Scham und Stolz, wird hier sehr feinfühlig eingefangen. Dabei schildert Gorelik sowohl Momente des Verloren seins als auch Momente des Staunens und Szenen der Heiterkeit, die durchaus humorvoll anmuten. Eine wunderschöne und treffende Erzählung, der man ihren echten Hintergrund auf jeder Seite anmerkt.
